60 Jahre Grundgesetz - Verfassung mit Anspruch und Wirklichkeit
Colloqium Fundamentale Wintersemester 2008/09
Am 23. Mai 1949 punkt Mitternacht trat es in Kraft – das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Konrad Adenauer leitete im Parlamentarischen Rat die Unterzeichnung des Grundgesetzes mit den Worten ein, dass „ein neuer Abschnitt in der wechselvollen Geschichte unseres Volkes“ beginne. Und tatsächlich wurde das Grundgesetz eine große Erfolgsgeschichte: das Beispiel der erfolgreichen Redemokratisierung eines Landes – mit internationaler Karriere, indem es Vorbild für andere Länder wurde. Die Verfassung, die eigentlich als ein Provisorium für ein geteiltes Land gedacht war, wurde zu einem stabilen und dauerhaften Fundament des demokratischen Rechtsstaats. Das Grundgesetz „bewahrt die Werte, die für uns unverzichtbar sind“, so Bundespräsident Horst Köhler in seinem Geleitwort zur aktuellen Ausgabe des Grundgesetzes. Der im Gesetz intendierte Interpretationsspielraum bietet Freiheiten für politisches Handeln und juristische Bewertung. Das Bundesverfassungsgericht als unabhängiges Verfassungsorgan und Hüter der Grundrechte hat die Verfassungsinterpretation und -wirklichkeit entscheidend geprägt. Die Bezüge und Verweise auf das Deutsche Grundgesetz sind aber auch im Alltag der Bürger und Bürgerinnen vielfältig – nicht nur bei Demonstrationen, in Leitartikeln oder in Talkshows.
Im Vorfeld des 60-jährigen Jubiläums wird diese Vortragsreihe das Grundgesetz als Verfassung eines wiedervereinigten Deutschlands in einer Union europäischer Staaten aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Zum einen soll an die Entstehungsgeschichte erinnert werden, wie drei Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus 73 Männer und 4 Frauen über eine demokratische Verfassung berieten, welche Richtungskämpfe um die Zukunft Deutschlands ausgetragen wurden und wie zur deutschen Wiedervereinigung 1989/90 die Verfassungsfrage diskutiert und entschieden wurde. Zum anderen soll ein Blick darauf geworfen werden, wie das Grundgesetz die Lebenswirklichkeit geprägt hat, welche Bedeutung und Gewichtung verschiedene Grundsätze haben und welche Veränderungsprozesse und Anpassungen an die jeweilige Zeit erwogen werden.
Dabei stellen sich kontroverse Fragen und werden die unterschiedlichsten Lebensbereiche angesprochen. Was sind unverzichtbare Werte und nach welchen Wertvorstellungen wurde das Grundgesetz formuliert? Klaffen der Anspruch des Grundgesetzes und die Realität auseinander – etwa in der Frage der Gleichstellung in Theorie und Praxis? Muss man das Grundgesetz als ein Angebot werten, das das Zusammenwirken von Staat und Gesellschaft regelt, aber auch Debatten über die Weiterentwicklung zulässt? Welche Artikel müssen im Zuge der EU-Gesetzgebung oder der Globalisierung überarbeitet und geändert werden? Sollte zum Beispiel eine Neudefinition des Verteidigungsbegriffs mit Blick auf die Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Auslandseinsätze der Bundeswehr vorgenommen werden? Oder sollte die Förderung der Kultur als ein Staatsziel im Grundgesetz verankert werden? Wie steht es mit der Kernenergie? Können verschiedene Gesetzesartikel in Widerspruch zu einander stehen, wie beispielsweise der Tierschutz und die Freiheit der Religion, der Wissenschaft und der Kunst? Kann dies zu einem Kulturrelativismus in der Verfassung führen? Wie kann die fundamentale Bedeutung des Grundsatzes der Menschenwürde gesichert werden? Wie kann mit Kontroversen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte umgegangen werden?
All diese Fragen regen zur Diskussion an, wobei die Aussage von Ernst-Wolfgang Böckenförde dabei immer im Gedächtnis bleiben wird: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“¹
¹Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/Main 1976, S. 60.
Konzept und wissenschaftliche Leitung:
Prof. Dr. Caroline Y. Robertson-von Trotha, Gründungsdirektorin des ZAK
Organisation: Ina Scholl M.A.
Pressearbeit: Sigrid M. Peters M.A.
Ort: Engesser-Hörsaal, Geb. 10.81, Otto-Ammann-Platz 1, 1. OG
Termine: Donnerstags (s.u.), 18h00 – 19h30
Veranstaltungsübersicht
Verfassung und Verfassungswandel
Präsident des Bundesverfassungsgerichts
vor dem Hintergrund immer neuer Bedrohungsszenarien noch zu gewährleisten ist. Er wird darlegen, inwieweit die Verfassung für die Menschen nicht nur einen rechtlichen Freiheitsraum, sondern auch einen politischen Raum zu schaffen geeignet ist, der dem Volk eine angemessene demokratische Teilhabe ermöglicht. Er wird die Themen
Staatsverschuldung, Sozialstaatlichkeit und Generationengerechtigkeit ansprechen und aktuelle innerstaatliche Veränderungen, vor allem im Bereich der Bundesstaatlichkeit behandeln. Schließlich wird er einen Ausblick auf Vorgänge im Bereich der Europäischen Union vornehmen.
ACHTUNG: Diese Veranstaltung findet im Tulla-Hörsaal, Geb. 11.40, Englerstraße 11 statt
Videoaufzeichnung der Veranstaltung.
Die Geschichtlichkeit des Grundgesetzes
Prof. em. Dr. Gerd Roellecke
Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, Universität Mannheim
Professor Roellecke versteht die Verfassung als ein positives Gesetz, das die Organisation der Politik begründet, legitimiert und begrenzt; gleichzeitig meint sie aber auch den Zustand eines Gemeinwesens. Eine typisch deutsche Verfassung ist das Grundgesetz, obwohl es unter Besatzungsherrschaft entstanden ist: „Nie wieder Diktatur“ lautete 1949 das politische Ziel. 1958 wurde das Grundgesetz vom Bundesverfassungsgericht zu einer Art „Zehn Gebote“ stilisiert, jedoch nach der Verfassungsdiskussion anlässlich der Wiedervereinigung wieder auf den Boden der Realität zurückgeholt. Das Grundgesetz kann allerdings auch an seinem eigenen Erfolg ersticken. Oder es verdorrt, wenn nicht mehr über Freiheit und Gleichheit diskutiert werden kann. Deshalb soll die Verfassungspolitik die Vertrauenswürdigkeit des Grundgesetzes pflegen und es nicht mit allerlei Wünschbarem belasten.
(Kultur)Relativismus in der Verfassung?
Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Leitender Redakteur der Berliner Zeitung, Rechtswissenschaftler
Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Freie Universität Berlin, Rechtsanwalt in Berlin
Foto: Holger André
Professor Wesel wird zunächst auf den Kerngedanken des Grundgesetzes eingehen sowie auf die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als seines wichtigsten Interpreten. Anschließend wird der von innen durch Politik und Wissenschaft aufgebaute Druck auf das Grundgesetz sowie die Tendenz zum Sicherheits- und Überwachungsstaat an Beispielen wie Flugsicherheitsgesetz und Vorratsdatenspeicherung thematisiert. Schließlich wird der Druck von außen veranschaulicht, der durch die europäische Integration und Globalisierung hervorgerufen wird, z.B. durch die Konkurrenz des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg und des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg. Welche Haltung haben demgegenüber die Karlsruher Richter? Bietet das Bundesverfassungsgericht ausreichend Schutz vor dem beidseitigen Druck?
Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Straßburg
stellvertretender Vorstandssprecher von Amnesty International Deutschland
Lehrstuhl Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre, Völker- und Europarecht, Bucerius Law School, Hamburg
Bundesminister des Innern
Foto: Holger André
ACHTUNG: Diese Veranstaltung findet im AudiMax, Geb. 30.95, Straße am Forum 1, um 17h00 Uhr statt. Der Einlass ist um 16h30.
Aus Sicherheitsgründen müssen Mäntel, Jacken, große Taschen und Rucksäcke an der Garderobe abgegeben werden. Die Garderobe ist während der gesamten Veranstaltung beaufsichtigt. Auch Getränke und Essen dürfen nicht in den Vortragssaal mitgeführt werden. Für diese Sicherheitsmaßnahmen bitten wir um Verständnis.
Videoaufzeichnung der Veranstaltung
Illustration: Cécile Noël / www.framboise-noel.eu