Siegfried Broß - Richter am Bundesverfassungsgericht

Prof. Dr. Siegfried Broß ist Richter geworden, weil er wollte, dass sich der Stärkere nicht allein aufgrund seiner Position durchsetzt. Anlässlich seines Vortrags über „Grundrechte und Grundwerte in Europa“ im Internationalen Forum am ZAK, sprach er mit unserem Mitarbeiter Felix Grünschloß.

Sind die Grundrechte in Deutschland durch die Erosion ihrer sozioökonomischen Grundlage gefährdet?
Ein Gespräch mit Prof. Dr. Siegfried Broß

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Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Siegfried Broß zu Gast am ZAK

Sehr geehrter Herr Broß, wie hängen Grundrechte und Grundwerte zusammen?
Grundwerte bilden als ideelle abstrakte Begriffe die Basis für die Ausprägung unserer Grund- und Menschenrechte. Im Gegensatz zum Recht aber sind diese Werte in keiner Weise diskutabel.

Was sind die wichtigsten gemeinsamen europäischen Grundwerte?
Die Achtung der Menschenwürde des Anderen, Toleranz, Sozial- und Rechtsstaatsprinzip und die Ächtung der Todesstrafe. Die Grundlage für viele dieser Werte bildet die christlich-jüdisch-abendländische Tradition.

Das heißt, Sie würden aufgrund der geschichtlichen Herkunft Grenzen für Europa ziehen?
Nicht verbindlich. Es gibt auch Regionen in Europa, wo andere Einflüsse herrschen und diese gemeinsamen Grundwerte nicht vorhanden sind. Genauso wie es außerhalb Europas Regionen gibt, wo sie anerkannt werden.

Stichwort Europa: Sie treten in Interviews oft als skeptischer Kritiker der europäischen Integration auf. Inwieweit gefährdet eine weitere Integration unsere Sozial- und Grundrechtsstandards?
Wir müssen sehen, dass die aus meiner Sicht zu hektische Erweiterung der Europäischen Union in einen Widerspruch gerät. In etlichen Staaten, die beigetreten sind, oder beitreten wollen, haben wir keine vergleichbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Grundlagen. Die politische Idee dahinter ist zwar lobenswert, das momentan tatsächlich vorherrschende Klima aber ist in erster Linie vom Wettbewerbsgedanken geprägt. Seit Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts sind Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet worden. Einher geht eine Privatisierungswelle öffentlicher Aufgaben, Bereiche der Daseinsvorsorge, auf die große Teile der Bevölkerung dringend angewiesen sind und zwar zu angemessenen Preisen.

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Prof. Dr. Siegfried Broß bei seinem Vortrag "„Grundrechte und Grundwerte in Europa“ am 08.05.2006

In welchen Staaten sehen Sie hier Nachholbedarf?
Ich darf natürlich aufgrund meiner Position keine Namen nennen, aber ich möchte doch auf Folgendes hinweisen. Ich habe schon vor Jahren eine Grundwertedebatte gefordert und zudem die Definition des angestrebten Endzustandes der EU. Wäre eine solche Debatte geführt worden, täten wir uns nun leichter damit zu sagen, dieses oder jenes Land passt nicht zu unserer Gemeinschaft. Mit genauen Kriterien und Prüfsteinen hätte man aus meiner Sicht die Dinge plausibler gestalten können, ohne dass man irgendwo Wunden schlägt.

Wie sieht es mit der Realisierung gemeinsamer europäischer Grundwerte und –Rechte hierzulande aus? Vor nicht allzu langer Zeit bemängelte der UN-Menschenrechtsbeauftragte Vernor Munoz das deutsche Bildungssystem. Im Moment sehen viele in der drohenden Schließung der Berliner Rütli Schule die ersten Anzeichen einer Zweiklassengesellschaft. Tatsächlich klafften die Gehälter in Deutschland lange nicht mehr so weit auseinander.
Die Grund- und Menschenrechte sind hierzulande nicht gefährdet. Allerdings sehe ich ein Problem, was deren sozioökonomische Grundlage angeht. Ich führe das auf eine Entwicklung zurück, die von der Gemeinschaftsebene her sehr stark beeinflusst ist, nämlich die geradezu kulturelle Überhöhung des Wettbewerbsgedankens. Durch die schrankenlose Öffnung zum Wettbewerb findet ein unterschwelliges Umdenken statt. Der Ellbogenmensch gewinnt zunehmend die Oberhand. Wenn wie verhindern wollen, dass schwächere Bevölkerungskreise mittel- oder längerfristig auf der Strecke bleiben, muss das oberflächliche Wettbewerbsdenken aufhören.

Die Nationalstaaten stehen dieser Entwicklung zusehends hilflos gegenüber. Sie betonen in diesem Zusammenhang oft die Verantwortung seitens der Unternehmen, die ja auch nur so lange florieren, solange stabile gesellschaftliche und rechtliche Verhältnisse bestehen. Wo sehen Sie hier Möglichkeiten auf europäischer Ebene gegenzusteuern?
Durch die europäische Integration ist für mich eher ein Vakuum entstanden. Ich sehe bisher nicht, dass hier ein Bollwerk gegen die Fehlentwicklungen der Globalisierung aufgerichtet wird. Im Gegenteil: Die Privatisierungswelle hält an und bildet längerfristig eine große Gefahr für die Steuerungsfähigkeit der Staaten.

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Prof. Dr. Siegfried Broß

Müsste eine zukünftige europäische Verfassung den Einfluss internationaler Unternehmen einschränken?
So etwas gehört als Kernstück mit in eine europäische Verfassung,  setzt aber voraus, dass ein ganz grundlegendes Umdenken auf der Gemeinschaftsebene einsetzt.

Glauben Sie, dass ein solches Umdenken mittels einer weiteren Diskussion über eine europäische Verfassung stattfinden könnte?
Ja. Aber jetzt, da der Verfassungsprozess ohnehin abgestoppt ist, darf man nicht zu hektisch vorgehen. Man muss jetzt ohne Zeitdruck die Dinge global im abstrakten Sinne betrachten und dann auch mal Bilanz über die zurückliegenden 20, 30 Jahre ziehen. Was ist da innerhalb der europäischen Gemeinschaft eigentlich passiert? Was für Entwicklungen gab es und welche Faktoren waren dafür ursächlich? Aber dergleichen hat ja nicht stattgefunden. Betrachten Sie alleine mal den Zeitdruck, der bei der Verabschiedung der Grundrechtscharta oder auch beim Verfassungsentwurf herrschte. Da wurden Zeitmargen gesetzt, danach fällt sozusagen einfach das Rolltor runter und man denkt nicht mehr drüber nach.

Glauben Sie noch an eine europäische Verfassung?
Auf der Grundlage des Verfassungsentwurfs, so wie er jetzt vorliegt, in nächster Zukunft nicht.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie Europa wünschen?
Für dieses an und für sich wundervolle Vorhaben ein gutes Gelingen. Und das ist auch möglich, wenn man mit mehr Augenmaß und Gelassenheit an die Dinge herangeht und die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Menschen als Subjekte wahrnimmt und nicht, wie ich es bisher sehe, eher als Objekte der Integration.

Sehr geehrter Herr Professor Broß, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.